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Interview vom 31. August 2017
DIE KRAFT DER MUSIK
Interview mit dem schweizerisch-holländischen Musiker und Komponisten Roger Moreno-Rathgeb
Von: Theo Rangeberg
Übersetzung aus dem Niederländischen: Geert Boogen
Vaals, 31. August 2017
Im Gespräch mit dem Komponisten und Musiker Roger Moreno
T.R.: Herr Moreno. Oder muss ich sagen Herr Rathgeb? Wir treffen Sie hier in ihrer Wohnung in Vaals, bei Aachen, nur 50 Meter von der Deutsch-Niederländischen Grenze entfernt. Aus purer Neugierde erst einmal die Frage: Moreno-Rathgeb? Woher dieser Doppelname?
R.M.: Nun ja, das ist eine etwas komplizierte Geschichte. Geboren wurde ich unter meinem bürgerlichen Namen Roger Rathgeb, dem Nachnamen meines Vaters. In den siebziger Jahren hatte ich als Musiker in der Schweiz auch unter diesem Namen gearbeitet. Wann genau sich der Künstlername Moreno eingeschlichen hatte, weiss ich eigentlich gar nicht mehr so richtig. Das muss irgendwo in den frühen achtziger Jahren gewesen sein, als ich mit den beiden Gypsyensembles “Basily” und “Tucsi” in den Niederlanden unterwegs war. Danach wurde ich als praktizierender Musiker unter dem Namen Roger Moreno bekannt. Als ich Ende der achtziger, anfangs der neunziger Jahre bei der BUMA (dem Niederländischen Ableger der GEMA) meine Songs und Kompositionen anmelden wollte, kriegte ich von denen zu hören, dass man sich nicht unter einem Künstlernamen oder Pseudonym anmelden durfte, sondern ausschliesslich mit seinem bürgerlichen Namen. Da ich in der Öffentlichkeit jedoch nur unter meinem Künstlernamen Moreno bekannt war, und unter dem Namen Rathgeb mich niemand erkennen würde, konnte ich bei der BUMA bewirken, dass der Doppelname Moreno-Rathgeb registriert wurde. So wie etwa zum Beispiel Mendelssohn-Batholdy, oder Rimsky-Korsakov. Nicht, dass ich mir anmassen würde, mich mit diesen grossen Komponisten vergleichen zu wollen. Gott bewahre. Der Doppelname Moreno-Rathgeb wird bloss gebraucht, wenn es um meine Kompositionen geht. Als ausübender Musiker trete ich noch stets unter dem Namen Roger Moreno auf. Es reicht also, wenn Sie mich Roger Moreno nennen.
T.R.: Okay. Roger Moreno. Sie sind vor allem bekannt geworden durch Ihre klassische Komposition “Requiem für Auschwitz”, welche weltweit viel Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung erhielt. Wie steht es aktuell mit diesem Werk?
R.M.: Erst mal; danke für die Blumen. Nun, das Requiem erlebte am 3. Mai 2012 seine Premiere in der Neuen Kirche in Amsterdam anlässlich des Niederländischen Nationalen Gedenktages an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Und danach wurde es in verschiedenen renomierten Europäischen Konzert- und Opernhäusern aufgeführt. In Deutschland war das in der Alten Oper in Frankfurt 2012, in der Berliner Philharmonie in 2013, und zuletzt am internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2016 in der Frauenkirche in Dresden.
T.R.: Dresden? Ausgerechnet in der Stadt der berühmt-berüchtigten Pegida-Märsche?
R.M.: Eben darum genau dort, und genau an jenem Tag. Man wollte damit unter Anderem auch ein Zeichen gegen Diskrimination, Gewalt und Ausgrenzung setzen. Die Aufführung fand nur zwei Tage nach solch einer Pegida-Demonstration statt. Während der Auffühung wurde die Frauenkirche dann auch polizeilich bewacht. Aber es ist nichts passiert. Die Kirche war voll, und zahlreiche Menschen aus dem Publikum verliessen nach dem Konzert die Kirche mit Tränen in den Augen. Das hatte mich sehr berührt. Eben auch darum, weil ja gerade die Dresdener Frauenkirche ein sehrgeschichtsträchtiges Symbol für Krieg, Zerstörung und Vernichtung darstellt. Es war für mich eine grosse Ehre, dass mein Requiem ausgerechnet dort in solch einem historischen Gebäude aufgeführt werden konnte.
T.R.: Stört es Sie, dass Ihr Requiem inzwischen auch als politisches Statement verwendet wird?
R.M: Nein, jetzt nicht mehr. Anfänglich schon, denn ich beabsichtigte ursprünglich ja nur, um mit diesem Werk ausschliesslich eine Art “lebendes Denkmal” zu erschaffen. Ein Gedenken an alle Opfer des Zweiten Weltkrieges im Allgemeinen, und ein Gedenken an die Opfer von Auschwitz im Besonderen. Und zwar an ALLE Opfer. Nicht nur an eine bestimmte Opfergruppe. Doch – eigentlich gegen meinen Willen – wurden seitens der Presse und der Öffentlichkeit bereits vor der ersten Aufführung verschiedene andere Dinge in das Werk hinein interpretiert. Und schon bald nach der Premiere wurde das Requiem als ein “kräftiges Statement gegen Krieg, Gewalt, Hass, Diskrimination und Ausgrenzung” bestempelt. Und gleichzeitig wurde mit dem Werk darauf hingewiesen, dass während des Zweiten Weltkrieges nicht nur 6 Millionen Juden, sondern auch schätzungsweise zwischen 500'000 und einer Million Sinti und Roma ermordet wurden. Eine Tatsache, welche in der allgemeinen Öffentlichkeit nur wenig bekannt war, und mit meinem Werk nun endlich die bitter notwendige Aufmerksamkeit erhalten hat. Also, diesbezüglich bin ich heute sogar beinahe stolz darauf, dass dieses Werk auch zu einem politischen Statement gewachsen ist. Dies ist doch mal wieder einmal der Beweis, dass man mit Musik doch erheblich gewisse Dinge innerhalb unserer Gesellschaft in Bewegung bringen kann. Ich nenne dies “Die Kraft der Musik”.
T.R.: Sie haben sich als künstlerischer Leiter ihres Sinti-Ensembles Tabor mit ihrer Gruppe auch schon seit vielen Jahren immer wieder für die Geschichte und Kultur der Sinti und Roma eingesetzt. Hat dieser Umstand eventuell auch dazu beigetragen, dass das “Requiem für Auschwitz” oftmals mit der heutigen Situation der Sinti und Roma innerhalb Europa in Verbindung gebracht wird?
R.M.: Ganz bestimmt. Dies ist natürlich eine willkommene Nebenerscheinung innerhalb der erreichten Bekanntheit meines Werkes. Es ist ja ohne Zweifel so, dass man aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges nicht viel gelernt hat. Sinti und Roma werden ja weltweit noch immer ausgegrenzt. Sie leben auch heute noch in einer hartnäckigen Welt der Chancenlosigkeit und Perspektivlosigkeit. Vor allem wenn es geht um soziale Gleichberechtigung, um Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, und um Erhaltung ihrer Kultur. An dieser Situation trägt auch die Bericht-erstattung der öffentlichen Medien eine gewisse Mitschuld. Denn – lasst uns mal ehrlich und realistisch sein: wenn im Fernsehen oder in Zeitungen über Sinti oder Roma berichtet wird, handelt es sich doch meistens um negative Schlagzeilen. Illegalität, Kriminalität, asoziales Verhalten, und ähnliches. Diese negative Berichterstattung trägt wesentlich zum erneuten Aufflammen des Fremdenhasses bei. Wenn es um Sinti oder Roma geht, wird doch fast nie mal etwas Positives berichtet, und wenn, dann nur ganz klein am Rande. Die Artikel über mein Requiem waren da dann schon die grosse Ausnahme. Dabei verstehe ich das nicht. Es gibt doch – vor allem in Deutschland – zahlreiche Menschen unter den Sinti und Roma, die sich ernsthaft und positiv für das Wohlergehen und die Gleichberechtigung innerhalb unserer Wertegemeinschaft einsetzen und engagieren. Aber darüber wird doch kaum berichtet. Das ist halt nicht wirklich eine Schlagzeile wert, vermute ich mal. Mit negativer Berichterstattung lässt sich scheinbar mehr verdienen. Traurig finde ich das. Sehr traurig.
T.R.: Das ist harte Kritik. Aber, danke für den Hinweis. Eine andere Frage: Sie haben sich bekanntlich mit der Arbeit an Ihrem Requiem recht stark verausgabt. Wie haben Sie das verarbeitet?
R.M.: Ja, das ist richtig. Die Arbeit an meinem Requiem – sie dauerte ja, mit Unterbrechungen, fast 10 Jahre – hatte mich schon sehr angegriffen. Nach Vollendung der Arbeit fühlte ich mich ziemlich ausgesaugt und ausgelaugt, sowohl physisch, als auch psychisch. Es war ja auch recht emotioneller Stoff, der da verarbeitet werden musste, und ich hatte zeitweise auch sehr intensiv daran gearbeitet. Dazu kam noch der ganze Pressetumult in der Zeit vor der Premiere. Zwei Monate lang hatte ich tagtäglich drei bis vier Reporter und Journalisten in meiner Wohnung - inklusive einem mobilen Sendewagen vom Limburgischen Regionalradio und -fernsehen vor meiner Hautür - und rannte ich von einem Fernseh- und Radiostudio zum anderen für Interviews. Aber gut. Inzwischen ist der “Hype” rundum das Requiem abgeklungen, und habe ich jetzt eine gewisse Distanz zu dem Ganzen. So kriegte ich Zeit und Raum, um mich langsam von den ganzen Strapazen zu erholen. Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte und mich auf neue Projekte stürzen konnte, obwohl die ganze Zeit bereits verschiedene Ideen in meinem Kopf herumspukten.
T.R.: Mit welchen Projekten sind Sie momentan beschäftigt?
R.M.: Nun, momentan bin ich mit verschiedenen Projektplänen beschäftigt. Einige davon sind auch wieder emotionell beladen und werden mir sicherlich wieder einiges an Substanz abverlangen. Andere wiederum werden einen leichteren und eher unterhaltsamen Charakter haben. Ganz oben auf meiner Liste steht die Komposition einer Oper.
T.R.: Eine Oper? Das scheint mir keine leichte Aufgabe. Was wird das Thema sein?
R.M.: Ja, das wird sicherlich eine schwere Aufgabe. Vor allem für mich als Autdidakt. Die Idee für diese Oper spukt schon seit 25 Jahren in meinem Kopf herum. Es war 1987, als der freie Journalist – und ein guter Freund von mir – Jan Beckers eine Reportage machen wollte über die “Kinder der Landstrasse” in der Schweiz. Er dachte natürlich, dass ich – da ich bekanntlich in der Schweiz geboren und aufgewachsen war – über diese Geschichte genauestens Bescheid wissen würde, und dass ich ihn für seine Spurensuche in die Schweiz begleiten würde. Aber ich hatte keine Ahnung, worum es dabei ging. Daraufhin hatte er mich ausführlich darüber aufgeklärt, dass zwischen 1926 bis 1972 hunderte Kinder aus fahrenden Familien – darunter auch Sinti und Roma – auf's brutalste entführt und zwecks “Umerziehung und Reintegration in die Schweizerische Gesellschaft” in Klöstern, Einrichtungen, Internaten oder bei kinderlosen Ehepaaren untergebracht wurden. Hunderte Familien wurden so auseinander gerissen. Jeglicher Kontakt zwischen Kindern und Eltern wurde hermetisch abgeriegelt. Die meisten haben sich nie wieder gefunden. Und von denjenigen, welche sich doch irgendwann mal wieder gefunden haben, konnten sich die meisten nicht mehr miteinander anfreunden, weil sie sich zu sehr voneinander entfremdet hatten. Sowohl menschlich, als auch kulturell.
T.R.: Das klingt nach einer heftigen Story.
R.M.: Für mich ist das nicht einfach nur eine Story. Ich war erschüttert und fix und fertig, als ich diese Geschichte hörte. Es fiel mir wie Schuppen vor den Augen, denn ich realisierte mir, dass dies alles passierte in jener Zeit, als ich eben dort geboren wurde und aufgewachsen war. Es geschah so hautnah, und trotzdem habe ich nichts von alledem mitgekriegt. So wie übrigens der grösste Teil der Schweizer Gesellschaft auch. Das ganze Ausmass der Tragödie kam ja erst in den achtziger Jahren vor's Tageslicht. Aber da lebte ich bereits seit einigen Jahren in Holland. Ich war so fertig nach dem Hören dieser Geschichte, dass ich nicht imstande war, um Jan Beckers für seine Reportage zu begleiten. Ich hatte einen Ekel an der Schweiz bekommen. Es dauerte bis Ende der neunziger Jahre, bis ich endlich wieder fähig war, um wieder mal meine Eltern in Zürich zu besuchen.
T.R.: Und wann kam in Ihnen die Idee auf, um diesen Stoff musikalisch zu verarbeiten?
R.M.: 1992 sah ich ganz zufällig im Fernsehen den eindrucksvollen Spielfilm “Kinder der Landstrasse” des Schweizer Filmemachers Urs Egger. Ich war völlig erschüttert. Ich heulte Rotz und Wasser aus purer Erschütterung, aus nagendem Schmerz, und gleichzeitig auch aus einer beissenden Wut. Wie konnte so etwas während solch einer langen Zeit geschehen, und gleichzeitig im Verborgenen bleiben? Da muss dann doch die Politik bis in die höchsten Ränge mitgespielt haben, sonst wäre so etwas doch gar nicht möglich gewesen. Auf jeden Fall war das Sehen dieses Films der Auslöser für die Idee, um über dieses Thema eine dramatische Oper zu komponieren. Nur war ich zu jener Zeit musikalisch noch nicht soweit, um diese Idee auch umsetzen zu können.
T.R.: Wie müssen wir das verstehen?
R.M.: Ich bin ja ein völliger Autodidakt. Sowohl als Musiker, wie auch als Komponist. Ich hatte weder Musiktheorie noch Komposition studiert. Alle Instrumente, welche ich heute bespiele, habe ich mir selber angelernt. Ein mühsamer Weg, wenn man keine Noten lesen und schreiben kann. Ich war zwar bereits seit 1971 als Musiker tätig, aber ich erlernte mir alles pur auf's Gehör. Das dauerte zwar länger, als wenn ich's von Noten hätte lernen können. Aber es hatte einen grossen Vorteil: es schärfte das Gehör und das Gefühl für Harmonien enorm. In den siebziger Jahren hatte ich bereits viele eigene Lieder und Songs “komponiert”. Zu meinem Leidwesen konnte ich sie nie aufschreiben. Ich konnte sie höchstens mit dem Kassettenrecorder aufnehmen, um das Erschaffene festzulegen und zu speichern. Leider sind aus jener Zeit viele Songs verloren gegangen, weil öfter mal Kassetten kaputt gingen, oder nach längerer Zeit nicht mehr abspielbar waren. Ich hegte bereits in den achtziger Jahren den heimlichen Wunsch, um irgendwann einmal fähig zu sein, um ein grösseres Orchesterwerk komponieren zu können. Aber durch meinen musik-theoretischen “Analphabetismus” wurde ich immerzu daran gehindert.
T.R.: Aber irgendwann haben Sie dann doch ein monumentales Orchester-Requiem komponiert. Dazu braucht es doch ein gewisses Mass an Kenntnissen. Wann und wie kamen sie dazu?
R.M.: Ach, auch dies geschah mehr oder weniger zufällig. Ich hatte mir 1987 selber ein bisschen Geige beigebracht und tourte so als Geiger mit meiner damaligen Gruppe “Gypsy Swing Quintett” durch die Niederlande. Irgendwann in 1990 – wir hatten ein Konzert in einem Jazzclub im Norden von Holland – kriegte ich eine vernichtende Kritik in einer Zeitung. Mein Geigenspiel klänge falsch und unsauber. Erst wollte ich stehenden Fusses die Geige an den Nagel hängen. Aber nach einiger Zeit fasste ich wieder Mut und wandte mich an einen Ungarischen Romageiger – Istvàn Kovács – der in Maastricht im städtischen Sinfonieorchester spielte. Er gab mir hie und da etwas Nachhilfe-unterricht, und bei ihm lernte ich zum ersten Mal richtig Noten lesen. Dies hatte meine Neugierde entfacht, denn jetzt erst wurde mir zum ersten Mal bewusst, was ich da eigentlich tat. Für mich eröffnete sich eine völlig neue Welt. Und da der Wunsch zum Komponieren grösserer Werke immer noch in mir schlummerte, ging ich in die Musikläden und kaufte mir Bücher über die allgemeine Musiklehre, über Harmonielehre, über Musiktheorie und Musikanalyse. Wie in einem Rausch hängte ich mich da richtig rein und verschlang richtiggehend diese ganze Materie.
T.R.: Wie lange dauerte es, bis Sie anfangen konnten, um grössere Werke zu komponieren?
R.M.: Nun, trotz all des Lesens dauerte dies noch einige Jahre. Um ein grösseres Orchesterwerk komponieren zu können reicht es ja nicht aus, um nur ein bisschen Noten lesen und schreiben zu können, und ein bisschen etwas von Musiktheorie zu verstehen. In einem Sinfonieorchester kriegt man es mit Instrumenten zu tun, welche man selber noch nie bespielt hat, und von deren Bereich und Möglichkeiten man dann auch gar keine Ahnung hat. Dazu braucht man ein Studium als Komponist oder Dirigent, und dazu natürlich auch die Erfahrung jahrelanger Arbeit in einem Sinfonieorchester. Beides hatte ich jedoch nicht.
T.R.: Aber, wie haben Sie das schlussendlich dennoch geschafft? Das erscheint ja fast als ein Ding der Unmöglichkeit.
R.M.: Auch wieder teils Zufall. Aber teils auch beinhartes Durchsetzungsvermögen. In den neunziger Jahren sang ich in meiner freien Zeit in einem Maastrichter Männerchor. Dies war auch eine grosse Hilfe bei der Weiterentwicklung des Notenlesens. Ausserdem lernte ich viel über die Möglichkeiten und die Klangfarbe eines Chores. Das war mir später beim Komponieren des Requiems von grossen Nutzen. Mein Sitznachbar – ein bis heute unverbesserlicher Computer-Freak – erzählte mir eines Tages über die musikalischen Möglichkeiten eines Computers mit einem dazugehörigen Musikprogramm. Das war 1993. Ich besass damals noch keinen Computer, und überhaupt: ein Computer war zu jener Zeit noch kein gängiger Gegenstand in einem normalen Haushalt. Von Internet ganz zu schweigen. Diese ganze Elektronik war für mich eine völlig fremde Welt. Aber meine Neugierde war geweckt. Also erwarb ich mir einen gebrauchten Atari-Computer und ein elektronisches Klavier mit Midi-Anschluss, und von meinem Chorkollegen erhielt ich eine Diskette mit einem geknackten Musikprogramm. Nun hatte ich zwar das Material, aber ich wusste überhaupt nicht, wie man damit umgehen musste. Mein Chorkollege war dann so freundlich und gab mir einen Schnellkurs im Lesen der Computersprache und führte mich in die Basishandlungen innerhalb des Computers und des Musikprogramms ein. Den Rest musste ich mir dann mal selbst erforschen. Es dauerte gute zwei Jahre, bis ich mich mit dieser neuen Materie einigermassen zurechtfand. Mit Hilfe des Computers und des elektronischen Pianos konnte ich jetzt den Klang fast aller Orchesterinstrumente imitieren, und konnte bereits komponiertes Material auf dem Computer abgespeichert werden. Und das Interessanteste für mich war, dass man das Gespeicherte jederzeit wieder abrufen und zur weiteren Verarbeitung verwenden konnte. Ich fühlte mich mit diesen neuen Möglichkeiten wie im Paradies. Aber damit war ich natürlich immer noch nicht am Ende der Fahnenstange.
T.R.: Was fehlte noch?
R.M.: Die Kenntnis darüber, was ein Instrument kann, und was nicht. Jedes Instrument hat seine Grenzen innerhalb seines Bereiches, sowohl in der Tiefe, als auch in der Höhe. Und wenn man diese Grenzen nicht kennt, dann schreibt man Sachen, die ein gewisses Instrument gar nicht mehr zu spielen imstande ist. So etwas lernt man normalerweise nur im Studium zum Komponisten oder Dirigenten. Oder – wie bereits erwähnt – mit der Erfahrung jahrelanger Arbeit in einem Sinfonie-orchester.
T.R.: Wie haben Sie dieses Problem gelöst?
R.M.: In verschiedenen Musikbüchern wurde öfters ein Werk von Hector Berlioz erwähnt. Berlioz war ein berühmter Komponist im neunzehnten Jahrhundert. Und dieser Berlioz schrieb vor über 150 Jahren eine ebenso berühmte Abhandlung über die Instrumentierung und Orchestrierung. In diesem Mammutwerk wird jedes Orchesterinstrument genauestens beschrieben. Der Tonbereich, die Klangfarbe, die Charaktereigenschaften der verschiedenen Register, wie und wofür man ein Instrument optimal einsetzen kann, und so weiter. Einfach alles. In einem Altbuchladen in Maastricht fand ich – auch wieder ganz zufällig (oder war es Karma?) – eine gebrauchte Ausgabe dieses Werkes, und dann – zu meinem grossen Glück und noch grösserer Freude – auch noch die deutsche Übersetzung von Richard Strauss. Jetzt endlich war ich bereit, um meine ersten Schritte richtung Orchesterwerk zu wagen. Aber es war ein mühseliges Unterfangen. Vor allem mit den Holz- und Blechblasinstrumenten hatte ich meine grösste Mühe, denn mit jenen Instrumenten hatte ich bislang noch überhaupt keine Erfahrung. Bei jeder Linie, die ich für solch ein Instrument schreiben wollte, musste ich erst mal ins Nachschlagwerk eintauchen und nachschauen, ob jenes Instrument die gewünschten Töne überhaupt spielen kann. Zu meinem Unmut musste ich ausserdem feststellen, dass die meisten Blasinstrumente anders geschrieben werden als dass sie in Wirklichkeit klingen. Da kam ich oftmals ganz schön ins Schwitzen.
T.R.: Wann begannen Sie Ihr erstes Orchesterwerk zu komponieren?
R.M.: Erst in 1995 war ich soweit, dass ich mich mit dem Computer und dem Musikprogramm soweit auskannte, dass ich mit der eigentlichen Arbeit des Komponierens beginnen konnte.
T.R.: Hat es darum fast zehn Jahre gedauert, bis Sie Ihr Requiem vollenden konnten?
R.M.: Nun, mit dem Requiem hatte ich erst 1998 angefangen. Ab 1995 hatte ich bereits ein Sinfonisches Gedicht, eine Sinfonie und eine Spanische Rhapsodie komponiert. Das Requiem war also bereits mein Opus 4. Ich hatte in der Zwischenzeit also bereits einige Erfahrung erworben. Allerdings muss ich erwähnen, dass diese ersten drei Kompositionen bislang noch nie live aufgeführt wurden. Daher fielen mir die Fehler, welche ich in jenen drei Frühwerken gemacht hatte, erst nach den Aufführungen des Requiems auf. Ich hatte in den ersten Fassungen des Requiems auch noch viele Fehler gemacht. Vor allem betreffend Stimmführung der verschiedenen Instrumente, auch betreffend der Mischung der Klangfarben der verschiedenen Instrumente. Ausserdem überschätzte ich den Stimmbereich der Solisten sowie auch des Chores. Ich musste also erst mal mit dem Rotstift durch die Partitur und einen ganzen Haufen doppelter Überlagerungen streichen. Und danach musste ich die Gesangspartitur für den Chor und die Solisten komplett umschreiben. Ganz klar, dass mich diese Unerfahrenheit sehr viel Zeit gekostet hatte. Dazu kam aber auch die mentale Erschöpfung. Die Arbeit an diesem Werk war derart emotionell beladen, dass ich aus purer psychischer Erschöpfung jahrelang nicht daran weiterarbeiten konnte. Vor allem deswegen hatte es fast zehn Jahre bis zur Vollendung gedauert.
T.R.: Was hatte Ihnen neue Impulse gegeben, um weiterarbeiten zu können?
R.M.: 2006 wirkte ich in verschiedenen Dokumentarfilms des niederländischen Filmemachers Bob Entrop mit. In zwei dieser Films sprach ich über meine Arbeit an diesem Requiem, und dass ich zu jener Zeit zu sehr blockiert war, um weiter daran arbeiten zu können. In 2007 kamen diese Films in die Filmhäuser, und in jenem Jahr wurde eine dieser Aufführungen durch Albert Siebelink gesehen. Albert Siebelink war der Direktor und Veranstalter des alljährlichen “International Gypsyfestival” im niederländischen Tilburg. Albert kannte mich recht gut, weil ich öfter auf seinem Festival aufgetreten war. Eines Tages in 2007 rief er mich an und fragte mich, ob mein Requiem inzwischen fertig sei. Als ich dies verneinte, bot er mir an, dafür zu sorgen, dass das Requueim – wenn es dann fertig sei – in verschiedenen europäischen Hauptstädten aufgeführt werden soll. Dies war für mich der Stoss in den Rücken, welchen ich in jener Zeit nötig hatte. Es hatte dann aber doch noch bis 2010 gedauert, bis das Requiem endlich vollendet war.
T.R.: Und dann der 3. Mai 2012. Die Weltpremiere in Amsterdam. Wie fühlten Sie sich da?
R.M.: Erst einmal grosse Erleichterung, dass es endlich soweit war. Nach so vielen Jahren. Aber gleichzeitig auch grosse Spannung und Nervosität. Es war mein erstes klassisches Orchesterwerk, welches in der Öffentlichkeit aufgeführt wurde. Ich kann mir vorstellen, dass so ähnlich sich die Geburt eines Kindes anfühlen muss. Mein ganzer Körper tat mir weh vor lauter Nervosität. Alle meine Glieder taten weh. Alle Muskeln, alle Sehnen, alle Nerven waren zum Zerreissen angespannt. Wie würde das Publikum mein Werk aufnehmen? Was, wenn sie es einen Mist finden? Wohin verkrieche ich mich dann?
T.R.: Aber Sie brauchten sich nicht zu verkriechen. Das Requiem wurde ein donnernder Erfolg.
R.M.: Vielen Dank. Aber bis hin zum letzten Ton der Aufführung war es ein Spiessrutenlauf der Gefühle. Einerseits war da natürlich der Stolz, dieses Werk überhaupt erschaffen zu haben. Andrerseits die Erleichterung, dass es jetzt endlich aufgeführt wurde. Aber eben auch das Gefühl der Unsicherheit, der Nervosität und der Spannung, wie das Publikum auf das Werk reagieren würde. Irgendwie konnte ich während der Aufführung gar nicht richtig von der Musik geniessen. Ich wartete nur voller Spannung auf den Moment, dass der letzte Ton verklungen ist. Und dann war er verklungen. Der Dirigent legte seine Brille auf das Notenpult, und dann......Stille. Stille. Und nochmals Stille. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Der ganze Kirchensaal schien mit mir den Atem anzuhalten. Es dauerte vielleicht zehn Sekunden. Aber diese zehn Sekunden kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Doch dann donnerte der Applaus los, und er donnerte noch sicher 15 Minuten lang weiter. Als ich auf die Bühne gerufen wurde, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich heulte los wie ein Schlosshund und fiel tränenüberströmt in die Arme des Dirigenten. Erst jetzt fiel die ganze Nervosität und Anspannung von mir ab. Das Kind war geboren, und es wurde mit offenen Armen von der Welt empfangen. Und ich war der glückliche Vater.
T.R.: Puh, so wie Sie das erzählen kann man ja förmlich mitfiebern. Und jetzt also eine Oper mit ähnlich schwer beladenem Thema?
R.M.: Ja. Unter anderem, allerdings. Wie gesagt, ich habe auch noch einige leichter verdauliche Projekte in Planung. Man kann ja nicht immerzu nur inhaltlich schwer beladene Themen verarbeiten, sonst geht man schlussendlich seelisch vor die Hunde. Man braucht zwischendurch auch mal ein bisschen Entspannung.
T.R.: Das kann ich gut nachvollziehen. Wie werden diese geplanten Projekte aussehen?
R.M.: Das werden Projekte sein, welche ich schon seit langer Zeit mal machen wollte. Ich habe inzwischen mehr als 150 Songs geschrieben, wovon der grösste Teil bislang weder auf CD veröffentlicht wurde, noch in der Öffentlichkeit gespielt wurde. Mit diesen Songs werde ich verschiedene Programme zusammenstellen. Ein Projekt hat den Arbeitstitel “Roger's swing” und wird ausnahmslos eigene Songs enthalten, welche sich innerhalb verschiedener Jazzrichtungen bewegen. Ein anderes Programm hat den Arbeitstitel “Love hurts” und wird eigene Songs enthalten, die allesamt irgend etwas mit der Liebe zu tun haben. Vor allem natürlich gescheiterte Liebe, welche besonders weh tut. Wieder ein anderes Programm trägt den Arbeitstitel “Let the sunshine in”. In diesem Programm werden neben eigenen Songs auch grössere oder kleinere Hits von anderen Interpreten oder Komponisten vorkommen. Auf jeden Fall allesamt Songs, die irgend etwas mit der Sonne zu tun haben. Das wird ein eher fröhlicheres Programm, denn jeder wartet doch nach einem langen, kalten und dunklen Winter sehnsüchtigst auf die Sonne. Das selbe könnte man allerdings auch von dem diesjährigen Sommer behaupten. Und dann ist da noch ein Projekt mit dem Arbeitstitel “Underdog”. Darin werden vor allem eigene Songs aus den früheren Jahren vorkommen. In den sieziger Jahren hatte ich mal ein Soloprogramm mit dem Titel “Prinzipiell dagegen”. Darin spielte und sang ich eigene Songs mit teilweise satirischen, auf jeden Fall jedoch immer sozialkritischen Texten. Letztlich hörte ich mir diese alten Songs wieder mal an und war überrascht, wieviele dieser Liedtexte heutzutage vielleicht sogar noch aktueller sind als zu jener Zeit wo sie geschrieben wurden. Das hat mich dazu ermuntert, diese alten Schinken wieder mal zu entstauben und in ein neues Programm zu stecken.
T.R.: Das klingt sehr interessant. Werden Sie diese Projekte alle mit Ihrer Gruppe Tabor umsetzen?
R.M.: Nein. Natürlich werde ich auch weiterhin mit Tabor beschäftigt und unterwegs sein, denn Tabor hat einen wichtigen Platz in meinem Herzen.. Aber Tabor ist eine Gruppe, die sich vor allem auf traditionelle Sinti- und Romalieder spezialisiert hat. Für die neuen Sachen werde ich mir für jedes Projekt jeweils die passenden Musiker zusammensuchen, denn jedes Projekt wird jeweils seinen eigenen Charakter und seine eigene Aussage haben. Vielleicht werde ich einzelne Projekte auch wieder mal als Soloprogramm gestalten, nur mit Gesang, und abwechselnd Akkordeon oder Gitarre. Ich bin noch am überlegen.
T.R.: Letzte Frage: wann können wir Ihr erstes Projekt erwarten?
R.M.: Das weiss ich jetzt noch nicht. Ich bin mit allen Projekten noch in der Entwicklungsphase. Wenn alles gelingt irgendwann in 2018. Aber ein Programm zu entwickeln und auszuarbeiten ist das Eine. Das ist eigentlich die leichtere Seite der Medaille. Das Andere – also die schwierigere Seite der Medaille – wird dann die Umsetzung und die Finanzierung der Projekte sein. Vor allem jetzt, in Zeiten, worin die Zuschüsse für Kunst im Allgemeinen, und für Musik im Besonderen, von allen Seiten her gekürzt und beschnitten werden. Da wird es sehr schwierig, um neue Projekte anständig finanziert zu kriegen. Und die Oper........ tja, das ist wieder ein ganz anderes Kaliber. Das wird ganz bestimmt noch seine Zeit dauern, bis ich die fertig habe.
T.R.: Wieder zehn Jahre?
R.M.: Na, das hoffe ich doch nicht. Aber wer weiss das schon? Inspiration kommt nicht auf Bestellung.
T.R.: Dann wünschen wir Ihnen viel Kraft und Inspiration.
R.M.: Vielen Dank. Ich vertraue auf die Kraft der Musik.